In einer anderen Zeit – Karen Duve liest aus „Fräulein Nettes kurzer Sommer“
Manchmal sind es Zufälle, die ein Buch entstehen lassen. Die preisgekrönte Bestseller-Autorin Karen Duve entdeckt in einem feministischen Buch die Geschichte über Annette von Droste zu Hülshoff, die Geschichte einer Liebes-Intrige, in deren Verlauf die ungewöhnlich emanzipierte junge Dichterin in der deutschen Biedermeier-Gesellschaft skandalisiert wurde. Und da, sagt Karen Duve, so schlicht, „begann ich ein Buch zu schreiben.“ „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ steht heute auf der Bestsellerliste.
Jetzt aber sitzt Karin Duve im Kasseler Gewächshaus unter einem Blätterbogen und liest auf Einladung des Vereins „Bürger für das Welterbe“ aus ihrem Buch. Eben nicht die Verführungsszene, die zu jenem Skandal mit August von Arnswaldt geführt hat und Droste zu Hülsoff zum Opfer einer Frauendiskriminierung ihrer Zeit werden lässt, nein, die Autorin hat ihre Passagen für Kassel ausgesucht: Sie führt ihre Zuhörer, an die hundert an diesem Nachmittag, mitten hinein in das gesellige kulturelle Leben der Residenzstadt im Jahr 1818. Bei einer Reise von Bökenhof in Ostwestfalen nach Kassel besucht die Familie von Droste zu Hülsoff mit den beiden Töchtern Annette und Jenny die in der Torwache wohnenden Brüder Grimm. Nach der Besichtigung des Marmorbades geht es mit der Kutsche hoch nach Wilhelmshöhe, die Gemäldegalerie, die Löwenburg und der Wasserfall warten. Ein bisschen Verliebtheit darf es sein. Ein schönes Eichenblatt zwischen einem Buch gepresst oder gemeinsam vor dem tosenden Wasserfall stehen, dem Rauschen zuhören. Jenny von Droste zu Hülsoff fühlt sich Wilhelm Grimm sehr nah. Doch die Reisen sind lang, sie wird ihn wahrscheinlich nicht wiedersehen. „Das also sind die Ekstasen der armen Romantiker“, kommentiert Karen Duve leicht ironisch ihre eigenen Passagen. Ein 13 Seiten langes Literaturverzeichnis im Anhang belegt ihre intensiven Recherchen; aus Briefen und Tagebüchern hat Duve ein Gesellschaftsbild entwickelt, das insbesondere die Frauenfeindlichkeit des Biedermeiers und den wachsenden Nationalismus mit einer amüsierten Ironie vorbeigleiten lässt.
Lesungen im Gewächshaus, dem 200 Jahre alten filigranen Gebäude aus Glas/Stahlkonstruktionen, sind zu einem erfolgreichen Format im reichen Veranstaltungsprogramm des Vereins „Bürger für das Welterbe“ geworden. Ihre Vorsitzende Brigitte Bergholter begrüßte zuvor die Literatur-Fans und Frau Natsuko Inada, die mit ihrer einfühlsamen Musik fast alle bisherigen Lesungen bereicherte.
Ein großes Lob empfing Brigitte Noll, die mit Kompetenz und Erfahrung diese Veranstaltungen stets zu einem Erfolg werden lässt. Sie hat wohl gerade mit Karen Duves „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ einen Roman in den Fokus gerückt, der die Wilhelmshöhe einmal in einem anderen Licht erscheinen lässt.
Von Juliane Sattler-Iffert