Die Leidenschaft des Archivars: Friedrich Forssman und sein Mulang-Archiv

Ein Umzug in eine andere Stadt bedeutet ein neues Kapitel. Als Friedrich Forssman 1990 mit seiner Frau Cornelia Feyll und seinen zwei Kindern nach Kassel zog, war das eher wegen der verkehrsgünstigen Lage und dem Vorhandensein einer Hochschule. Der neue Standort, genauer gesagt die Villa in der Schlossteichstraße 3 gegenüber Park und Lac, wurde dann aber doch mehr als eine räumliche Veränderung, es entwickelte sich daraus eine, wie Friedrich Forssman es formuliert, persönliche Obsession, zu wissen, wo man lebt, in welchem Umfeld, mit welchen Spuren der Vergangenheit. Denn Forssman entdeckte beim Ausbau seines neuen Hauses auch sein Interesse an dem Villenviertel Mulang und dem chinesischen Dorf mit dem Namen Mou-lang. Der Buchgestalter und Grafiker wollte mehr wissen; die Idee, ein Archiv einzurichten, wurde Ende der Neunzigerjahre geboren. Und hier kommen dann die Zufälle der Zeit ins Spiel: Die Digitalisierung war längst auf dem Vormarsch. Forssman nutzte sein Können für sein neues Hobby und machte sich auf die detektivische Suche nach Material: Er suchte im Internet, auf Flohmärkten und immer gab es auch Nachbarn und Freunde, die ihm alte Unterlagen aus jener Zeit – Briefe, Alben, Schriftstücke und Familienfotos – angeboten haben. 2001 sicherte er sich die Domain „kassel-wilhelmshöhe.de“ und 2003 stellte er auf dieser Website erstmals Materialien des Mulang-Archivs der Öffentlichkeit zur Verfügung, und zwar kostenlos.

Wir sitzen im Wohnzimmer von Friedrich Forssman und unterhalten uns über das, was man gern Vergangenheit nennt, mir gegenüber steht ein imposantes Bücherregal, raumhoch. Ich werde ihn später fragen, wie viele Bücher er hat. Und er wird antworten: 10.000. Forssman, heute 60 Jahre alt, ist ein Bücher-Mensch; er hat sich schon als Kind für die Vergangenheit interessiert, wie etwa diejenige alter Häuser, erzählt er. Aber erst in Kassel begann sein Interesse zur Obsession zu werden. Inzwischen hat er an die 2.000 Objekte zusammengetragen, Texte in Frakturschrift mithilfe von KI übersetzt, Materialien und Exponate digitalisiert, vernetzt und in einen Kontext gestellt. Klicks – oder genauer gesagt: Besucher – hat dieses Archiv im Monat an die 15.000. Eine Erfolgsgeschichte kann man das nennen. Ich frage nach seiner Zielgruppe und er antwortet sehr überraschend: „Die bin ich selbst, ich mache die Website, die ich selber gern hätte“. Nicht ohne Stolz erwähnt er dann noch, dass die Villenkolonie-Bestände seines privaten Archivs inzwischen die des entsprechenden Themas im Stadtmuseum oder im Stadtarchiv bei Weitem übertreffen.

Inzwischen, nach über 20 Jahren, erstreckt sich der Inhalt des Mulang-Archivs auf den gesamten Stadtteil Wilhelmshöhe, fast täglich speist Forssman neue Materialien ein. „Dadurch entstehen sehr nette Kontakte“, erzählt er, „über 80-jährige Menschen, die mich anrufen und sagen, ich habe Material, wollen Sie das haben?“ Der Kontakt, die Kommunikation mit anderen, das ist das Brot des Sammlers. Und es gab auch Zufälle, die ein großes Glück für den Archivar aus Leidenschaft bedeuteten. Für 700 € ersteigerte er auf einer Internetaktion ein fast 120 Jahre altes Fotoalbum des Villenkolonie-Gründers Heinrich Schmidtmann (1842–1921). Früher waren nur zwei Fotografien von Schmidtmann vorhanden, jetzt sind 63 Fotos in einen Kontext gestellt und benutzerfreundlich zugänglich. Mit ein paar Klicks wandert man durch ein Leben von damals, das aufregend war und reich. Schmidtmann, aus einer Handwerkerfamilie stammend, hatte sich emporgearbeitet, die Bauhandwerkerschule besucht und später ein eigenes Bauunternehmen in Kassel gegründet, er baute Häuser im Mulang und auch einige hochherrschaftliche im Hohenzollernviertel.

Es ist einer der ersten Sonnentage in diesem Frühjahr, in dem Raum, in dem wir sitzen, ist es noch kühl, alte Häuser halten länger die Temperaturen. Friedrich Forssman sagt mir, dass Heinrich Schmidtmann dieses Haus gebaut hat. Schöner kann es eigentlich nicht zusammenpassen. „Die Gegenwart besteht hauptsächlich aus Vergangenheit“, sagt Friedrich Forssman zu mir. Rückschau zu halten hilft auch beim Blick auf die Gegenwart. Der Hobby-Archivar aus der Schlossteichstraße hat einen Schatz geborgen, der auch zukünftige Generationen bereichern kann. Was aus seinem privaten Archiv mit seinem vielfältigen Wissen über Park und Mulang, die Villenkolonie und die Herkulesbahn und vielem anderen mehr einst werden wird, diese Frage bleibt offen. Die Fortführung wäre sicher eine sinnvolle Aufgabe für die Stadtgesellschaft.

Von Juliane Sattler-Iffert

Fotos: © Friedrich Forssman

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