Die Pyramideneiche am Fontänenteich
Es muss so um das Jahr 1450 gewesen sein, als in der Gemarkung Harreshausen bei Babenhausen die Eichel einer Stieleiche keimt, die einmal Geschichte machen wird.
Lange bleibt das Bäumchen inmitten all der anderen Waldbäume unbeachtet. Doch eines Tages muss es, inzwischen ein stattlicher Baum, unweigerlich aufgefallen sein.
Stellen wir uns einmal vor, der Herr Graf von Hanau lädt seine adligen Freunde zu einer Jagd ein und reitet vorher noch einmal durch seinen Wald, um nach jagdlich besonders interessanten Gebieten zu schauen. Dabei führt ihn sein Weg ganz zufällig an einem stattlichen Baum vorbei, der ihn stutzig macht und innehalten lässt. Über einem rund 12 Meter hohen schlanken Stamm entfaltet sich eine aufrechte Krone, die eher an eine Zypresse erinnert. So etwas hat er noch nie gesehen und das auch noch in seiner Grafschaft!
Möglicherweise ruft er seinen Förster zu Rate. Der kann ihm dann glaubhaft versichern, dass es sich hier ganz offensichtlich um eine Eiche handelt. Leider wird dies Ereignis zunächst von niemandem festgehalten aber etwa um 1700 wird dann doch etwas aufgeschrieben, denn es ist überliefert, dass Graf Johann Reinhard III von Hanau-Lichtenberg seinen Oberförster mit der Büchse zu dem mittlerweile unter dem Namen „Schöne Eiche“ von Harreshausen bekannten Baum zitiert.
Wenn man schon im Besitz eines Wunderbaums ist, muss dieser auch perfekt sein und eben das ist er nicht. Besonders für einen barocken Menschen ein verständlicher Wunsch.
Im oberen Bereich der Krone ragte ein Ast heraus, als hätte er als einziger vergessen, dass er wie alle anderen sich schlank nach oben recken sollte. Hier musste natürlich Abhilfe geschaffen werden – nur wie? Zum Hinaufklettern eignete sich die Baumkrone schlecht, wie also sollte man diesen Makel beseitigen?
Es musste ein meisterlicher Schütze her, der in der Lage sein würde, den lästigen Ast an der entsprechenden Stelle schlichtweg abzuschießen. Für den Herrn Oberförster eine Ehrensache!
So wurde das Problem tatsächlich ganz elegant und offenbar auch nachhaltig gelöst.
Viele Jahrhunderte lang pilgerten Baumbegeisterte zur „Schönen Eiche“ von Harreshausen. Sie wurde gehegt und gepflegt und um ihren besonderen Charakter noch deutlicher zu machen, wird der Baum freigestellt (zunächst noch mit dem Rückschlagtrieb) und eines Tages sogar ein Staketenzaun drum herum gebaut. Ja, im Siebenjährigen Krieg wird er sogar von Soldaten bewacht, damit ihm auch ja nicht „im Eifer des Gefechts“ ein Härchen gekrümmt wird.
Ein Pilgerort war geboren!
Zunächst für Wissenschaftler und Gartengestalter, doch dabei bleibt es nicht.
Auch mein Mann und ich reihten uns eines Tages, es war im Jahr 2010, in den Pilgerstrom ein, allerdings zu spät, unsere „Schöne Eiche“ bestand aus kaum mehr als einem morschen Stumpf, umgeben von einem Kranz zarter Zweige. Die Lebenskraft war bewunderungswürdig, der endgültige Abschied dennoch absehbar. Allerdings an die 600 Jahre sind auch für eine Eiche ein stattliches Alter!
Warum erzähle ich diese Geschichte?
Die „Schöne Eiche“ von Harreshausen gilt nicht nur als der Urahn aller europäischen Pyramideneichen, nein unmittelbar von ihr stammt auch unsere Kasseler Pyramideneiche am Fontänenteich ab.
Allerdings wird in verschiedenen Quellen Verschiedenes berichtet, wie es zu diesem Abkömmling gekommen sein soll. Am wahrscheinlichsten ist die Version, dass unsere Kasseler Eiche durch Pfropfung eines Reisers von der „Schönen Eiche“ entstanden ist, denn diese Methode war damals gut bekannt, weshalb die Hanauer Grafen viele Reiser an Freunde verschenkten oder sie an andere Interessenten verkauften, waren sie doch sehr begehrt und brachten einen schönen Gewinn.
An anderer Stelle kann man lesen, dass unsere Eiche aus einer Eichel gezogen worden sei und aus ihren Früchten dann wieder alle anderen Pyramideneichen im Park.
Nun ist es aber nicht so selbstverständlich, wie man meinen möchte, dass solche Mutationen überhaupt Früchte tragen und wenn sie es tun, dann müssen aus diesen nicht wieder die gleichen Mutationen hervorgehen. Die Natur neigt dazu, arterhaltend zu arbeiten und aus den Früchten eines Mutanten wächst in den meisten Fällen nicht wieder ein Mutant.
Der Gärtner braucht also viele Versuche und viel Geduld, um zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen.
Dass die Eicheln der Harreshäuser Eiche zu 70% sortenechte Pflanzen hervorbringen ist, wenn es denn wahr ist, außergewöhnlich!
Unsere „Fontänenteich-Eiche“ – Quercus robur Fastigiata“ ist im Laufe ihres Lebens schon unzählige Male Mutter, ja Großmutter und auch Urgroßmutter geworden, denn Generationen von Gärtnern haben mit viel Geduld neue Pflänzchen gezogen, die die gleichen Anlagen zu einem aufstrebenden Wachstum mitbrachten. Die meisten zwar zeigen nicht diesen besonders schlanken Wuchs, sondern neigen ein bisschen zur „Fülle“. Das heißt, zwar streben ihre Äste und Zweige deutlich nach oben, aber die gesamte Gestalt ist oft etwas breiter und immer wieder kommt es vor, dass ein einzelner Ast sich auf
seine Urahnenart besinnt und einfach waagerecht aus der aufstrebenden Gestalt herauswächst.
Das nennt man dann einen Rückschlagtrieb.
Wie die einzelnen Parkverwaltungen oder Gemeinden dann mit so einem lästigen Ast verfahren, werden wir nicht ergründen. Warum unsere „Fontänenteich-Eiche“ schon mehrfach baumchirurgisch behandelt wurde (das erste Mal 1985 nach einem Blitzschlag) und in letzter Zeit sogar aufwändig gestützt, braucht uns nun jedoch nicht mehr zu wundern. In dieser Hinsicht teilt sie übrigens das Schicksal ihrer Ahnin, die mehrfach vom Blitz getroffen und schwer beschädigt wurde. In Sachen Alter wird sie es allerdings kaum genauso weit bringen. Etwa um 1795 soll sie hier ihren Standort gefunden haben. Damit käme sie auf ein Alter von kaum 250 Jahren.
Wie viel Jahre sie bei aller Fürsorge noch zu leben hat? Es dürften wohl kaum mehr als 25 sein.
Wir aber können dann eines Tages sagen: „Wir haben sie nicht nur gesehen, wir waren sogar mit ihr vertraut!“
Text: Eva Karner